Nicht alle Kinder werden mit Freude und Entzücken über das Wunder eines neuen Lebens, über das Wunder der Schöpfung eines ganz neuen Menschen erwartet. Während ich dies niederschreibe, verhungern fünfzehn Millionen Kinder, und zwar nicht nur in weit entfernten Kontinenten, wo wir sie so leicht vergessen. Es gibt verzweifelte Kinder, hungrige und bedürftige Kinder in jedem Erdteil, in jedem Land, in jeder Stadt. Abtreibungen verhindern die Geburt von Hunderttausenden von Babys, aber dadurch lösen sich die Probleme nicht. Erst wenn unsere Einstellung zum Leben sich verändert; erst wenn wir imstande sind, uns auf eine neue, verbindliche Weise für die Qualität des Lebens einzusetzen; erst wenn wir das praktizieren, was für so viele nur ein Lippenbekenntnis ist, und wenn wir unsere Begriffe von Leben und Liebe neu definieren, werden die Probleme unserer Gesellschaft gelöst werden.
In manchen Teilen der Welt (ich habe den ganzen Planeten bereist und überall gearbeitet) sind Kinder ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Ein Baby nach dem anderen wird geboren, und die Familien oder der Stamm versorgen und ernähren sie und ziehen sie in fast gemeinschaftlicher Art und Weise groß. Kinder finden dort immer jemanden, der sich um sie kümmert, der ihnen etwas Zeit schenkt, sie in Kunst und Handwerk unterweist, der sie lehrt, wie man physisch, emotional und spirituell überlebt. Kinder werden als ein Wert betrachtet, da sie schließlich später für alle Bedürfnisse, inklusive Nahrung und Versorgung der Alten, aufkommen werden. Diese Einstellung gegenüber Kindern beweist das universelle Gesetz, daß »jeder Nutzen auf Gegenseitigkeit beruht«.
Je mehr Kinder eine solche Familie oder ein Stamm hat, desto größer ist die Garantie für das künftige Weiterbestehen. Als die nächste Erwachsenengeneration werden diese Kinder für Ernte und Handel, für die Erhaltung des Dorfes und das Wohlergehen seiner Bewohner sorgen.
Unsere Welt hat sich innerhalb des letzten halben Jahrhunderts enorm gewandelt. Seit dem Einzug der modernen Transportmittel, der materiellen Lebensanschauung, seit Technik und Wissenschaft unsere alten spirituellen Werte verdrängt haben, hat sich das Leben verändert und sich vor allem auf die Erziehung unserer Kinder ausgewirkt.
Erinnern Sie sich an die Zeit, als Familien über Generationen in derselben Gemeinschaft lebten? Als jeder den Pfarrer oder Rabbiner, die Lehrer und den Ladeninhaber als Persönlichkeiten und oft mit ihrem Vornamen kannte? Als Kinder wußten, wo sie hingehörten, und die ganze Gemeinschaft die Geburt eines neuen Erdenbürgers erwartete? Als die Alten strickten und nähten, um die ersten Kleidungsstücke der Kinder mit der Hand anzufertigen? Als die Nachbarn bereit waren, Geburtshilfe zu leisten und das neue Baby zu begrüßen?
In den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts wissen die meisten von uns nicht einmal, ob eine Nachbarin ein Kind bekommen hat oder ob sie ein paar Tage verreist war und zurückgekehrt ist, obwohl wir vielleicht zufällig erfahren, daß sie eine Fehlgeburt oder eine Totgeburt hatte.
Wie anders war es zu den Zeiten, als Tanten und Großmütter kamen, um der jungen Mutter beizustehen, wenn sie im Wochenbett war. Damals betrachteten die älteren Brüder und Schwestern ehrfürchtig die winzigen Zehen und Finger des Neugeborenen, sie hörten den ersten Schrei des Kindes - das Lebenszeichen - und sahen zu, wie das neue Baby seine erste Mahlzeit an der Brust seiner Mutter einnahm. Dies sind Szenen, die sich schon den kleinen Kindern einprägen und die sie nie vergessen werden. Dies sind Augenblicke der Teilnahme, des Lernens, des Wachsens und der Ehrfurcht.
Jetzt entscheiden Ehepaare sich meist vorrangig für Karriere und Sicherheit und erst später vielleicht für ein Kind. Sie sparen lieber für ein Haus oder eine Eigentumswohnung, bevor sie sich durch Nachwuchs »binden«. Sie wollen ihre Freiheit, um reisen zu können, um Geselligkeit zu pflegen und beweglich zu sein, und sie sagen, daß sie das Leben und die Freiheit genießen wollen, bevor die Kinder kommen.
Sie ziehen von Stadt zu Stadt, von einem Arbeitsplatz zum anderen, und wenn ein ungeplantes Baby erscheint, hat das Paar oft keinen Familienrückhalt in der Nähe, keine Großmutter, die für das Baby strickt, keine Eltern, die sich um den Haushalt kümmern, keinen vertrauten Arzt, keine Hebamme, keinen Beistand durch liebevolle Fürsorge und vertraute Gesichter. Die Geburt eines Kindes bedeutet heutzutage oft eine bezahlte Hilfskraft, einen neuen Arzt, ein großes Krankenhaus, eine Entbindung durch irgend jemanden »vom Dienst« und eingeleitete Wehen zur Bequemlichkeit des Systems.
Als ich vor einigen Jahren im Entbindungssaal einer Klinik der gehobenen Mittelschicht in den Vereinigten Staaten arbeitete, wurden bei fast drei viertel aller Entbindungen die Wehen eingeleitet und viel zu oft eine Zangengeburt vorgenommen, einfach nur, um den Vorgang zu beschleunigen und nicht zu viel Zeit zu verschwenden (»Zeit ist Geld!«) durch das Warten auf eine langsame, aber natürliche und bewußte Niederkunft. Sehr wenige Babys hatten eine gesunde, rosige Hautfarbe; zu viele waren bläulich angelaufen. Fast alle Mütter waren durch Medikamente so betäubt, daß sie das Wunder, an dem sie eben teilgenommen hatten, nicht wahrnehmen konnten. Oft fragten sie mich Stunden danach halb benommen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen geboren hatten!
Inzwischen waren die Väter an ihre Arbeitsstellen zurückgekehrt und hatten stolz unter ihren Mitarbeitern Zigarren verteilt. Das Baby wurde dann abgesaugt, gewaschen, gewindelt und beiseite gelegt, es mußte sich ohne den warmen, tröstlichen Hautkontakt mit der Mutter an seine neue Umgebung gewöhnen. Jedes Tier junge beginnt sein Leben, indem es sich tagelang fest an seine Mutter anklammert, aber nicht das menschliche Kind - wenigstens nicht in unseren modernen Spitälern, in unserer »fortgeschrittenen«, technisierten, gehetzten Gesellschaft, wo Zeit Geld ist und Effizienz über alle anderen Werte gestellt wird.
So treten Kinder ihr Leben oft in einer überaus entpersönlichten Atmosphäre an, in einer Institution, wo die Mutter in einem anderen Zimmer liegt und sich von Betäubungsmitteln, einem Dammschnitt oder eingeleiteten Wehen erholt, während das Baby seine ersten Atemzüge in den Händen von Dienstpersonal tut und dann in ein steriles Säuglingszimmer gebracht wird. Die Väter nehmen ihre Arbeit wieder auf, nachdem sie sich wenige Stunden von ihren Schreibtischen entfernt hatten, Großeltern werden per Telefon von dem freudigen Ereignis verständigt, und die Geschwister warten zu Hause, bis die Mutti mit dem neuen Familienzuwachs nach Hause zurückkehrt. Da die bereits vorhandenen Kinder an dem Wunder nicht teilnehmen dürfen, gewöhnen sie sich daran, diese Zeit mit Spannung oder einem vorübergehenden Gefühl, im Stich gelassen zu sein, mit einem Einbruch in ihre Lebensgewohnheiten zu assoziieren. Daher werden sie den Neuankömmling als Ursache dieser unangenehmen Veränderungen betrachten.
Das Leben geht bald wieder seinen gewohnten Gang, wenn alles gutgeht, wenn Mutter und Kind wohlauf sind und keine Komplikationen am Horizont auftauchen. Aber was geschieht mit Familien, wenn das Baby oder die Mutter nicht wohlauf ist? Wie bereiten wir die Eltern und Geschwister auf dieses Ereignis vor?
Dieser Text stammt ausgerechnet aus einem Buch über den Tod. Ich fand ihn zu wichtig, um ihn hier nicht vorzustellen. Wenn man mehr oder weniger gewollt oder ungewollt schwanger wird, sollte man genau abwägen, was jetzt auf einen zukommt. Ein Kind krempelt schlagartig das ganze Leben um. Es hat, wie alle Ereignisse imer Vor- und Nachteile. Nichts aber auch gar nichts kann man vorausahnen. Aber sich schon mal mit allem, was kommen könnte, auseinanderzusetzen, ist eine gute Basis, sein Leben zu meistern.
Literaturnachweis und -empfehlung:
„Kinder und Tod"
Von Elisabeth Kübler-Ross
©by soulkisser |